Lebensspirale
Marpa – Ein tibetischer Rebell

132 Seiten gebundene Ausgabe
ISBN: 80-903500-8-9

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Marpa – Ein tibetischer Rebell

Marcel Vanek
Schon Marpa war kein angepasster Mensch! Wundere dich also nicht, wenn du hier in 12 Geschichten die unkonventionellsten Unterrichtsmethoden gelehrt wirst. Streng und konzentriert treibt er den geistigen Entwicklungsprozess seiner Schüler an. Auf Milarepa hat er ein besonderes Auge geworfen! Wer fliegen lernen, den Kontakt zur Erde herstellen oder einfach nur sein Herz für seine Mitwesen öffnen will, ist hier ein willkommener Gast. Auch dieses Buch ist mit Illustrationen von Radek Hraby ausgeschmückt und ebenfalls für alle Generationen geeignet.
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Aus dem Kapitel: Die schreckliche Schlucht

[…] "So mein Junge, du bist also schon geflogen?", fragte Marpa mit strenger Stimme. Milarepa nickte und begann sein Erlebnis mit dem Fliegen zu erzählen: Vor einigen Jahren, als er noch verzweifelt den richtigen Lehrer suchte, flüchtete er in jener hoffnungslosen Zeit für eine Weile ins Kloster und wurde dort zu einem "Mönch auf Probezeit". Die älteren Mönche meditierten stundenlang und hatten viele Geheimnisse, die strikt innerhalb der Klostermauern bewahrt wurden. Eines davon betraf die Levitation, die Kunst sich in die Luft zu erheben und sich von der Erdanziehung zu befreien. Zuerst verbrachten sie lange Stunden in Meditation, dann gelang es ihnen dank eines tiefen Tones das Gravitationsfeld abzuwenden und einige Meter über dem Erdboden zu schweben – oh welch ein Wunder!
Eines Abends luden sie den jungen Milarepa zu einer Sitzung ein, in der ein Levitationsversuch stattfinden sollte. Die Mönche hofften, dass so ein Wunder bei Milarepa den Ausschlag geben würde, einer der ihren zu werden. Alle saßen im Kreis, die Beine in Meditationsposition überkreuzt, mit gerader Wirbelsäule da und öffneten ihren Geist. Im richtigen Moment begann ein älterer Mönch einen tiefen Ton auszustoßen und rhythmisch auf eine Trommel zu schlagen, dass einem eiskalt über den Rücken lief. Dieser Mönch war nicht Teil des Kreises, sondern saß etwas abseits und war der "Chef" dieser Geheimsitzung. Und tatsächlich! Bald begann der Kreis der sitzenden Mönche sich wirklich etwas in die Luft zu erheben und fing langsam zu rotieren an. Ein unglaublicher Anblick! Ein wirkliches Wunder! Der "Chefmönch" trommelte voller Stolz und die Runde der über dem Erdboden kreisenden "Flieger" erlebte dabei das erhabene Gefühl vollkommener Befriedigung. Sie brachten so was Fantastisches zu Stande! Milarepa war dagegen nicht so beeindruckt: er levitierte zwar, wusste aber nicht so genau, wo der Sinn des Ganzen liegen sollte. Heimlich hinter Klostermauern seine gesamte Energie für so was aufzuwenden? Und dabei leben draußen Menschen, die Einwohner Tibets, ihre Brüder ... und mit so was glauben wir ihnen zu helfen? Solche Spielchen lassen uns höchstens auf gewöhnliche Menschen herabsehen. Und so kommen wir uns denen überlegen vor, die jenseits der Klostermauern leben, die uns hier mit ihren Geschenken nähren, die in uns ihre Hoffnung setzen, dass wir ihnen in allem, wirklich allem helfen werden!
Milarepa öffnete die Augen und rief: "Die Ärsche zur Landung bereithalten!" Der ganze Kreis stürzte natürlich sofort auf den steinigen Boden und alle taten sich gründlich weh und Milarepa wurde natürlich noch am selben Tag aus dem Kloster verstoßen. "Schade, dass ihr nicht draußen auf dem Hof levitiert seid, dort hättet ihr aus einer größeren Höhe runterfallen können und den Mönchen wäre endlich ein Licht aufgegangen", meinte Marpa und fuhr mit ruhiger Stimme fort: "Fliegen ist nicht gleich fliegen. Es gibt verschiedene Methoden, um zu levitieren. Die Methode der Mönche war einfach, sie benützten die Tonschwingungen umso für kurze Zeit den Fluss der Erdenergie zu unterbrechen. Für dich, Faulpelz, habe ich natürlich die schwerste Methode ausgesucht!" und blickte auf Milarepa: "Das wird zwar nicht einfach sein, du wirst es mehrere Jahre üben müssen, aber ich werde es dir schon eintrichtern! Du wirst mir noch fürs Fliegen dankbar sein. Wenigstens wirst du mir das Bier nicht mehr zu Fuß holen müssen... da das Wirtshaus doch so weit ist!"
Milarepa musste grinsen, wusste aber, dass auf das, was sein Lehrer sagte, Verlass war. Er machte sich keine Illusionen darüber, dass das Studium bei Marpa einfach sein würde - Marpa war streng, nervös und gab sich ab und zu vulgär, aber alles hatte bei ihm seinen Sinn und Logik, alles zielte darauf auf ab, Milarepa Nutzen und Verstehen zu bringen. Erst musste der Schüler lernen, bei vollem Bewusstsein seinen aus Gedanken geschaffenen Astralkörper abzulösen. Dabei handelt es sich um einen nichtmateriellen Körper, der uns nachts während des Schlafs verlässt. Er fliegt wohin er gerade will durch die Welt, und wir haben dabei keine Ahnung davon. Versuchen sie aber das Gleiche mal tagsüber mit vollem Bewusstsein! Das war wirkliche Knochenarbeit. Marpa fand immer eine Möglichkeit, wie das Ziel auf kürzestem Wege zu erreichen war, allerdings handelte es sich hierbei auch um den schmerzhaftesten Weg! Und so kam es, dass Milarepa mehrere Wochen nicht schlief: er war sich selbst nicht mehr ganz im Klaren, ob er wachte oder träumte, lernte dabei aber schnell seinen Gedankenkörper zu beherrschen ihn abzulösen und mit ihm bei vollem Bewusstsein und mit offenen Augen zu fliegen. Das war für ihn ein fantastisches Erlebnis, so was wie eine neue Dimension des Sehens. Er flog über die Bergspitzen des Gebirgsmassivs dahin und dennoch war er physisch da unten auf der Erde, blickte auf sich selbst von oben herab, wie er da unten mit Marpa saß. Weitere lange und schmerzhafte Stunden plagte ihn Marpa mit Yogaübungen - das heißt mit Übungen, bei denen jeder Muskel, jede Zelle unter die Kontrolle des Bewusstseins gebracht werden musste. Der Körper wollte aber nicht: er wehrte sich und stöhnte. Eine unangenehme Übung war die mit dem Wasser: Milarepa musste Wasser trinken, das musste den gesamten Verdauungstrakt durchlaufen, durch den Darm und aus dem Hintern raus. Und dann auf dem gleichen Weg wieder zurück in den Mund! Marpa kontrollierte den Reinheitsgrad des Wassers und wenn es auch nur ein bisschen stank, bemerkte er nur trocken: "Noch mal!"
Ein Glück, dass es noch das Buch gab, das heilige Buch! Marpa hatte ein Buch in seinem Besitz, ein Buch der Erkenntnis, das Milarepa über alles liebte, mehr als sein Leben! In ihm war die gesamte Erkenntnis seines Lehrers aufgeschrieben und in raren Momenten las er Milarepa daraus vor und gab ihm Erklärungen dazu, und das war das, was der Jüngling die ganze Zeit gesucht hatte. Beim Lesen erlebte Milarepa wirkliches Glück. Danach musste aber wieder geschuftet werden und Mensch, war das eine Schinderei! Man musste sich in einem fort reinigen! Das heißt, wenig Essen, nur Reis, viel Wasser und ununterbrochen an das denken, was Marpa ihm auferlegt hatte. Es langte ein bloßer Augenblick Unaufmerksamkeit und gleich bekam er eine Ohrfeige geklebt. Hier wurden sogar die Gedanken der Schüler gelesen, also konnte man sich nicht wie in anderen Schulen durchmogeln. Milarepa war ein Musterschüler und hielt alles haargenau ein. Eine Sache bereitete ihm aber Sorgen: von klein auf hatte er Höhenangst. Einerseits zogen Abgründe ihn zwar an, erregten und faszinierten ihn, andererseits hatte er aber eine Riesenangst vor ihnen. Jedes Mal wich er in einem respektvollen großen Bogen bei seinen Wanderungen den Schluchten und tiefen Tälern aus, die die tibetischen Wege säumten. Und Marpa? Der flog in der Gegend herum, hatte keine Spur Angst und zog Milarepa damit auf. Nach langem Üben des Bewusstseins, wie die Erde und ihre Energie zu spüren ist, wie die Himmelsenergie zu spüren ist und wie beide zu verbinden sind, nach all diesen anstrengenden und langen Wochen der Theorieeinübung, sagte Marpa eines Tages: […]
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