Lebensspirale
Milarepa – Tibetische Legenden

210 Seiten gebundene Ausgabe
ISBN: 80-903500-7-0

7,00 Euro (inkl. 7% MwSt.)
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Milarepa – Tibetische Legenden

Marcel Vanek
In 25 Episoden aus dem alten Tibet erhalten wir faszinierende Einblicke in Milarepas Leben und seinen damaligen Arbeitsmethoden. Es sind zeitlose Geschichten über menschliche Eigenschaften wie Überheblichkeit, Neid, Eifersucht und Hass, Erzählungen über verkrustete Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen, die sich erneuern mussten. Und nicht zu vergessen, Weisheiten über die Liebe, jener universalen Energie, die uns das Leben schenkt. Milarepa begegnet allen Wesen mit großer Offenheit und viel Humor, und spiegelt die Verhaltensweisen des menschlichen Egos in einem Licht, dass man selbst lachen muss, obwohl man eigentlich weinen sollte. Das Buch ist für alle Generationen, auch für Kinder sehr geeignet! Wunderschöne Illustrationen des Malers Radek Hraby im tibetischen Tangka-Stil runden dieses Buch ab...
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Aus dem Kapitel: Die Flucht in die Erleuchtung

[…]

Es war eine wunderbare kristallklare Nacht, die Luft war eisig und der Mond warf sein Licht auf die verschneiten Gipfel des Himalajas. Der Schnee glitzerte wie Tausende von Diamanten. Milarepa hatte gerade seine Abendmeditation beendet. Ihm war angenehm warm. Da er mit der Erd- und Himmelsenergie umgehen konnte, war es für ihn kein Problem in dieser eisigen Nacht durch sein Bewusstsein Wärme zu herzustellen. Er ging ziemlich oft nur spärlich bekleidet, trug nur einen Umhang über ein paar Oberteile, während Andere dick in Felle vermummt waren. Wie immer reiste er zu Fuß und hatte sich entschieden, heute in den Bergen zu übernachten. Diese Nacht war es eine Steinmulde in der er einschlief, mit Blick auf den Sternenhimmel, nur mit seinem leichten Umhang zugedeckt. Unweit von dort lag ein Kloster, das er den nächsten Tag besuchen wollte. Er kannte den dortigen Lama gut, sie waren Freunde. Die Gefühle, die man in so einer Nacht durchlebt, lassen sich nur schwer beschreiben. Das Pfeifen des Windes über den Berggipfel ist zu hören, der Mondschein füllt den gesamten Raum mit geheimnisvollem Licht und jeder Wassertropfen ist klar zu vernehmen. Aber auf einmal waren merkwürdige Geräusche zu hören. Nein, das war kein Tier, das musste ein Mensch sein! In der Ferne bewegte sich etwas auf dem Weg, besser gesagt auf dem sich dahin windenden Fußpfad. Dieses Etwas regte sich fürchterlich auf und kam in seine Richtung. Milarepa setzte sich in seine Lieblingsposition: Er saß immer einem Fuß unterm Hintern, den zweiten seitlich angewinkelt. Auch wenn der Mond hell schien, wandern ließ sich nur bei Tageslicht. Wie leicht konnte man einen größeren Stein übersehen und sich eine Verletzung einhandeln. Deshalb war Milarepa erstaunt, wer da so spät noch unterwegs sein konnte. Endlich zeigte sich, dass es ein Junge war, ein kleiner Junge im Mönchsgewand. Sogar sein Klagen war nun gut verständlich. Er führte folgendes Selbstgespräch: "Lieber sterbe ich, ich geh da nie wieder zurück, ich werde die ganze Nacht laufen und erfrieren ... Ich kehre nie wieder in das Kloster zurück, ich habe da nie hingewollt, das wollte Vater ...er drängte mich dazu, ich aber will kein Mönch sein... nach Hause kann ich auch nicht zurückkehren, also muss ich sterben..." Milarepa hörte gespannt zu. Dann stellte er sich auf und rief: "He Junge, warte mal!" Der Junge erschrak, dass ihm beinah das Blut in den Adern gerann. Er wartete keineswegs, sondern nahm Reißaus. Er rannte wie ums Leben, rannte wie blind und taub und stolperte natürlich über den ersten größeren Stein. Er fiel so ungeschickt, dass er sich die Stirn aufschlug, die stark zu bluten begann. Vor Schmerz begann er zu schreien und zu schluchzen. Die Wunde war tief und hässlich, und das Gewand gleich voller Blut. Milarepa lief zu ihm hin, nahm ihn in den Arm, riss ein Stück Robe ab und verband die frische Wunde. Dabei schlief der Junge vor Angst und Erschöpfung ein. Milarepa trug ihn zu der steinigen Senke, deckte ihn mit seinem Umhang zu und nahm ihn in den Arm. So schliefen beide ein. Der Junge spürte die Geborgenheit und Wärme und hatte keine Angst mehr. Auch wenn er den Fremden nicht kannte, fühlte er sich in Sicherheit. Milarepa war voll Liebe, liebte alle Wesen, und deshalb verspürte auch jeder in seiner Nähe Wärme. Niemand hatte vor ihm Angst, da er Harmonie ausstrahlte.

In der Früh wachten beide auf, Milarepa lächelte dem jungen Mönch in seiner blutverschmierten Robe zu und fragte: "Tut's weh?" Der Junge schüttelte verneinend den Kopf. Milarepa nahm in auf den Arm und trug ihn den Weg zurück, auf den der Kleine gekommen war, Richtung Kloster. Als der Junge das Kloster zu Gesicht bekam, erschrak er sehr und sein Herz fing an zu rasen und er versuchte wieder auszureißen. Milarepa nahm ihn aber fest an die Hand und sagte: "Hab keine Angst, du wirst sehen, dass alles gut ausgeht, ich verspreche dir ..." Der Junge glaubte ihm aber nicht: "Sie werden mich bestrafen, sie bringen mich um ... ich will da nicht mehr hin, da sterbe ich lieber!" Milarepa streckte ihm seine Hand entgegen und tröstete ihn:" Alles, was sie mit dir machen wollen, werden sie auch mit mir tun müssen. Wenn sie dir eine Tracht Prügel verabreichen wollen, dann werden ich sie auch verlangen, ich lass dich nicht im Stich, wir sind doch schließlich Freunde!" Das besiegelten sie mit Handschlag. Das beruhigte den Jungen, da er spürte, dass er einen neuen Freund und Beschützer gefunden hatte. So gelangten sie zum Kloster und schlugen ans Tor. Die Diensthabenden erkannten Milarepa sofort und im Innern des Klosters brach Chaos aus - in aller Eile wurden die Vorbereitungen für die Begrüßungszeremonie getroffen. Das Tor wurde geöffnet und Milarepa und sein neuer Freund traten ein. Alle verstummten. Der "Oberlama" kam ehrerbietig trippelnd auf seinen Freund Milarepa zu, verbeugte sich und ergriff dann den kleinen Mönch energisch am Kragen: "Du Strolch, du Nichtsnutz, bist du wieder ausgerissen! Zwei Tage suchen wir dich schon, warte nur, du sollst eine saftige Strafe kriegen!" Auch Milarepa fasste den kleinen Lausbub am Kragen und sagte zum Lama: "Mein Freund, da wirst du aber auch mich bestrafen müssen, weil wir zwei das so abgemacht haben!" Der Lama schüttelte begriffsstutzig den Kopf und schaute auf seine Mönche. Auf beinah allen Gesichtern konnte man Anzeichen von Zorn ablesen, alle hatten nämlich von dem ewigen Ausreißen die Nase voll. Ganze Nächte mussten sie schon den Jungen in den Bergen suchen, was nicht immer ohne Probleme ablief. Der Lama war entschlossen, dass er den Jungen auf jeden Fall bestrafen musste. "Hiermit bekommst du die Strafe von zwanzig Stockhieben und fünf Tagen Einzelhaft in der Kellerzelle des Klosters, ohne Essen, nur Wasser. Dann wird dir dein ewiges Ausreißen schon vergehen. Ich trage deinem Vater gegenüber die Verantwortung für dich, versteh das doch endlich!" So sprach der Lama und hätte dabei eigentlich am liebsten gelacht. In Anwesenheit von Milarepa wollte das sich Aufregen nämlich nicht so richtig klappen. Milarepa antwortete: "Nun gut, wo kriegen wir unsere Dresche?" Der Junge konnte seinen eigenen Ohren nicht trauen. Er meinte das wirklich ernst! Milarepa nahm den Jungen an der Hand und beide legten sich auf die nächste Bank. Sie lagen da nebeneinander mit hervorschauenden Hintern. Milarepa drehte sich zu den begriffsstutzigen Mönchen um und sagte: "Na kommt schon! Macht doch, damit wir es endlich hinter uns haben. […]
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